Fahren ohne Fahrradhelm – Mitverschulden bei Kopfverletzungen?

Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (Urteil vom 05.06.2013 – 7 U 11/12) hat als erstes höheres Gericht ein Mitverschulden gem. § 254 BGB bei einem ”gewöhnlichen” Fahrradfahrer  angenommen, weil dieser keinen Fahrradhelm trug und bei dem Verkehrsunfall am Kopf verletzt wurde. Bei sportlich ambitionierten Fahrradfahrern (Rennrad) gab es bereist entsprechende Entscheidungen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.02.2007 – 1 U 182/06; Saarländisches Oberlandesgericht, Urteil vom 09.10.2007 – 4 U 80/07)). Das Schleswig-Holsteinische OLG sah es angesichts des Fortschritts in der Fahrradtechnik als verfehlt an, zwischen verschiedenen Fahrradtypen zu unterscheiden. Auch mit ”normalen” Fahrrädern könnten heute hohe Geschwindigkeiten erreicht werden.

Beachtenswert ist die Begründung zur Quote von 20%. Mit der Argumentation des OLG könnte auch eine deutlich höhere Quote angenommen werden, wenn feststünde, dass Kopfverletzungen bei Tragen eines Fahrradhelms gänzlich vermieden worden wären. Im konkreten Fall wären diese nur gemildert worden.

 

Zum Sachverhalt:

Die Geschädigte befuhr mit ihrem Fahrrad innerorts eine Straße. Sie trug dabei  keinen Fahrradhelm. Am rechten Fahrbahnrand parkte die Unfallgegnerin mit ihrem Pkw. Sie öffnete unmittelbar vor der sich nähernden Geschädigten die Fahrertür ihres PKW, so dass die Klägerin nicht mehr ausweichen konnte und gegen die Fahrertür fuhr. Die Geschädigte stürzte, fiel auf den Hinterkopf und zog sich schwere Schädel-Hirnverletzungen zu (zweifacher Schädeldachbruch am Stirnbein und hohen Scheitelbein linksseitig, Blutungen sowie Hirnquetschungen rechtsseitig).

Die Versicherung der Autofahrerin vertrat die Auffassung, die Geschädigte müsse sich ein Mitverschulden in Höhe von 50% anrechnen lassen, weil sie keinen Fahrradhelm trug.

Die Geschädigte erhob Klage vor dem Landgericht und begehrte die Feststellung, dass die Unfallgegnerin und ihr Haftpflichtversicherer vollständig für den entstandnen Schaden einzutereten haben.

Das Landgericht hat der Klage im vollen Umfang stattgegeben. Nach Auffassung des Landegerichts treffe die Klägerin kein Mitverschulden, da es eine allgemeine Helmpflicht nicht gäbe und sie ihr Fahrrad (im Gegensatz zu Rennradfahrern) als gewöhnliches Fortbewegungsmittel genutzt habe.

Das Schleswig-Holsteinsiche OLG beurteilte den Fall entgegen der bisher herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung anders. Die Klägerin trage einen Mitverschuldensanteil in Höhe von 20 %. Dies berücksichtige zum einen, dass ein Helm nach den Feststellungen des Sachverständigen die Kopfverletzung der Klägerin zwar in einem gewissen Umfang hätte verringern, aber nicht verhindern können und zum anderen, dass das grob fahrlässige Verhalten der Autofahrerin den Mitverschuldensanteil der Klägerin deutlich überwiege.

Das OLG beruft sich auf die ständige Rechtsprechung des BGH wonach ein Mitverschulden des Geschädigten auch ohne das Bestehen gesetzlicher Vorschriften angenommen werden kann, wenn dieser „diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt“ (BGH, Urt. v. 30.01.1979, VI ZR 144/77, NJW 1979, 980 m.w.N.). Er müsse sich insoweit „verkehrsrichtig“ verhalten, was sich nicht nur durch die geschriebenen Regeln der Straßenverkehrsordnung bestimme, sondern auch durch die konkreten Umstände und Gefahren im Verkehr sowie nach dem, was den Verkehrsteilnehmern zumutbar sei, um diese Gefahr möglichst gering zu halten (BGH a.a.O.). So hatte der BGH ein Mitverschulden eines Motorradfahrers angenommen, obwohl für den Unfallzeitpunkt noch keine allgemeine Helmpflicht für Motorradfahrer galt (BGH, Urt. v. 09.02.1965, VI ZR 253/63, NJW 1965, 1075). Demgegenüber hatte zwar der BGH ein Mitverschulden desjenigen, der einen vorhandenen Sicherheitsgurt nicht angelegt hat, verneint (BGH, Urt. v. 10.04.1979, VI ZR 146/78, NJW 1979, 1363). Allerdings wurde in diesem Fall festgestellt, dass sich zum Unfallzeitpunkt – vor Einführung der Gurtpflicht – noch kein entsprechendes allgemeines Sicherheitsbewusstsein der Kraftfahrer herausgebildet habe.

Das OLG hat die Revision zugelassen. Es bleibt abzuwarten, ob Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt wird und ggf. wie der BGH den Fall entscheiden wird.

Dies hängt maßgeblich von der Frage ab, ob sich bei dem betreffenden Verkehrskreis (normaler Fahrradfahrer) überwiegend bereits ein Sicherheitsbewusstsein dahingehend ausgeprägt hat, dass das Tragen einen Fahrradhelm zum eigenen Schutz gebietet.

 

Stellungnahme:

Mit der Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen OLG wird im Zuständigkeitsbereich dieses Oberlandesgerichts quasi eine Helmpflicht eingeführt, ohne dass der Gesetzgeber hierfür eine Grundlage geschaffen hat. Die Annahme, des OLG, es habe sich in der Bevölkerung bereits ein entsprechendes Sicherheitsbewusstsein herausgebildet und deshalb verstoße es gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt, auch im Stadtverkehr auf normalen Fahrrädern keinen Helm zu tragen, widerspricht offenkundig der Realität. Beobachtet man den Straßenverkehr eine Weile, gelangt, man zu dem Eindruck, dass etwa ein Fahrradfahrer von zwanzig einen Helm trägt. Wenn man den verschiedenen Quellen im Internet glauben schenken kann, liegt die Zahl der Kopfverletzungen bei Fußgängern im Straßenverkehr häufig über der der Fahrradfahrer. Man müsste sich dann die Frage stellen, ob nicht ebenso gut eine Helmpflicht für Fußgänger eingeführt werden sollte – eine absurde Vorstellung.

Entscheidungen wie die vorliegende berücksichtigen nicht, dass die Gefahr in erster Linie von dem Kraftfahrzeug und dessen Führer ausgeht. Gerade bei Schwerstverletzten wirkt sich zudem eine Mithaftung von 20% oder mehr empfindlich auf die weitere Lebensführung aus.

Geschädigte sollten derartige Entscheidungen keinesfalls hinnehmen, sondern den Rechtsweg erforderlichenfalls bis zur letzten Instanz nutzen.

 

Nachtrag: Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung des OLG Schleswig mittlerweile aufgehoben.